Montag, 20. Juli 2020

Medizinische Begutachtung einer Mystikerin - Mechtild von Hakeborn: Eine Diagnose

Sie war eine ungemein vielseitige und kenntnisreiche Ordensfrau - ab 50 wurde sie krank. Aber gerade als ob ihre große Begabung noch nicht ganz ausgeschöpft ist, zeigte sie nun in ganz anderer Weise die Größe und Tiefe ihres Geistes. Kranksein ist in jedem Leben eine Art Ausnahmezustand, der herausfordert. Und hier zeigt sich für einen Ordenschristen auch die Reife seiner Hoffnung am deutlichsten. - Doch woran litt sie eigentlich? Kann man aus den quer durch das Buch gesäten Hinweisen (gemeint ist der Liber specialis gratiae) Anhaltspunkte für eine Diagnose finden?

Der wichtigste allgemeine Grundsatz zuerst: Das Häufige ist häufig.

Benediktinisch-zisterziensich lebende Ordensfrauen haben einen Schleier und ein langes Gewand und befinden sich den überwiegenden Teil ihres Lebens in geschlossenen Gebäuden, mal betend, mal arbeitend, mal lesend. Damit fehlt der Haut das Sonnenlicht, ist ihr Spiegel an Vitamin D nicht gerade hoch. Mechtild von Hakeborn war Schulleiterin, Novizenmeisterin, Bibliothekarin, Leiterin des Scriptoriums und Cantorin - alles Tätigkeiten, die dafür sprechen, dass auch sie nicht viel an die Sonne gekommen ist. Das bedeutet, dass sich über kurz oder lang eine Störung im Knochenstoffwechsel eingestellt hat, z.B. bei extremem Vitamin D3-Mangel ein sekundärer Hyperparathyreoidismus mit Osteomalacie, die sogenannte renale Osteopathie, resultierend in Muskelschwäche, diffusen Knochenschmerzen und hepatischer Osteodystrophie. Die Knochenschmerzen entstehen durch Umbauprozesse und gelenknahe Verkalkungen. Bildung von Calciumoxalatsteinen, damit Nierenkoliken. Die Symptomentrias "Stein-Bein-Magenpein" wäre hier also durchaus zu unterstellen. Hinzu kommt in diesem Alter noch die durch Hormonveränderungen bedingte Osteoporose.

Liest man das einleitende Kapitel über Mechtild in ihrem Buch, so ist zu erfahren, dass sie ein Steinleiden, Kopfschmerzen und 'Hitze der Leber' also ein unspezifisches Oberbauchgefühl hatte [vgl. Vorwort zum erstenTeil]. Alle drei Symptome wären in ihrer Genese durchaus mit obiger Ursache zu vereinbaren. Umbauprozesse im Übergang vom Kopf zur Halswirbelsäule können Kopfschmerzen verursachen, Schmerzen Verspannungen - ein circulus vitiosus. Doch hier dürfte im Laufe der Erkrankung noch viel mehr die chronische Niereninsuffizienz mit den entsprechenden Folgen, z.B. Bluthochdruck verantwortlich sein. Kreislaufveränderungen, ein pochendes Herz wird im Buch beschrieben. Auch psychotische Veränderungen (Halluzinationen) kommen vor. Im Kontext dieses komplexen Erkrankungsbildes steht auch die oft im Buch beschriebene Schwäche. Veränderungen an der Wirbelsäule können zudem Nervenreizungen mit ischialgiformen Beschwerden hervorrufen, die ebenso beschrieben sind z.B. "dass der Schmerz dich bis zu den Knien erfasst"[Kapitel XXXIX].

Eine andere Sache sind die häufigen Ohnmachten im Chor, beschrieben in mehreren Kapiteln zu Beginn des zweiten Buches. Dass sie als Hauptkantorin mit vollem Einsatz sang, ist u.a. im dritten Teil [Kapitel VII] beschrieben. Nun gibt es ja Menschen, deren Blutdruck in den Morgenstunden nicht besonders hoch ist, was im Verein mit Schwäche zu Ohnmachten führen kann. Angesichts der oben beschriebenen Symptomatik halte ich diese Genese für nicht so logisch. Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, den sogenannten Euler-Liljestrand-Reflex. Areale in der Lunge, die nicht belüftet sind, werden auch nicht durchblutet. Wenn man in der Nacht als Mensch mit Schwäche und einem gewissen Alter im Bett liegt, können nichtbelüftete Lungenbereiche mehr werden, gerade beim Schlaf in Rückenlage ohne große Bewegung. Wenn solch ein Mensch nun z.B. zum Einsingen Tiefatmungen und Atemübungen macht, könnten solche Lungenbezirke plötzlich wieder am Gasaustausch teilnehmen, werden somit auch wieder durchblutet, womit durch die Blutumverteilung ein Blutdruckabfall resultiert.

Die vorliegende Symptomatik ist medizinhistorisch interessant, weil sie einen Verlauf jenseits der heute üblichen Behandlungsmethoden, inklusive der Schmerzmittel, dokumentiert. Religionsgeschichtlich offenbart sie die Art der Verarbeitung ihres Leidens. Und ihre hohe Bildung und Gottesbeziehung machten daraus das entstandene Werk.