In
ihrer Vorrede, die sie dem Text vorangestellt hat, verweist die Übersetzerin
auf zwei Berufungsgeschichten in der Hl. Schrift, die einen Einblick in die
Person der Hiltgart geben. In ungefährer hochdeutscher Entsprechung sagt Hiltgart
etwa:
Nun hab ich etliche
Materie mit unbedachten Worten bäurisch ausgelegt,
Doch werde niemand zu
seinem Erstaunen davon bewegt,
Dass ich mit Herrn
Jeremia ein Kind bin – a.a.a. – und kann nicht reden.
Ich habe die Mehrheit meiner
Tage zu schweigen gepflogen,
Mit Herrn Moses bin ich
geworden von schwerfälliger Zungen.
Euch Achtgebenden und
Hörenden muss (es) gut gelingen.
Die
von ihr angesprochenen Bibelzitate sind die folgenden:
Jer
1, 6-8: Ach, mein Gott und Herr, ich kann
doch nicht reden, ich bin noch so jung. Aber der Herr erwiderte mir: Sag nicht:
Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was
ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn
ich bin mit dir, um dich zu retten – Spruch des Herrn.
Ex
4, 10: Doch Mose sagte zum Herrn: Aber
bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern,
noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind
nämlich schwerfällig.
Stellen
Sie sich vor, irgendwo in Nordafrika taucht plötzlich eine aramäische
Handschrift religiösen Inhalts aus der Zeit Jesu auf, die alle Welt
interessiert und die von einem großen Gelehrten bereits aus dem Aramäischen ins
Lateinische übersetzt worden ist. Und nun trägt jemand die Bitte an Sie heran,
diesen bedeutenden Text, der in aller Munde ist, in der Landessprache zu
veröffentlichen, weil Sie beispielsweise gerade Ihr Abitur gemacht oder einen
Sprachkurs erfolgreich absolviert haben. Sie wissen, es gibt viele Professoren
und Gelehrte, die das tausendmal besser können als Sie, die sich mit der
Materie auskennen und jeden Zeitbezug und Querverweis einarbeiten können. Aber
nicht diese, sondern Sie sollen diese Übersetzung liefern. Sie haben den
Anspruch einer gewissen Qualität, von der Sie wissen, dass Sie diesem in dieser
Lage gar nicht gerecht werden können, aber andererseits nicht die Möglichkeit,
diese Aufgabe abzulehnen. Und selbst wenn Sie ein bisschen stolz auf diese - Ihre
Erwählung - wären, so schwingt doch die ungeheure Angst mit, all jene
wesentlich Begabteren würden Sie und Ihre Arbeit am Ende in der Öffentlichkeit
zerfetzen. Wie würden Sie sich da fühlen?
So etwa muss es dieser
jungen, etwa 27 jährigen, Frau ergangen sein,
als ihr diese große Aufgabe angetragen wurde: Sie lebt in einem Kloster –
weglaufen geht nicht! In ihrer Selbstdarstellung nennt sie sich kindisch an Tugend und an Jahren.
Sie ist eine der jüngeren Ordensschwestern und hat sicher noch einige Sätze
derer im Kopf, die sie erzogen haben. Vielleicht war da ja manchmal ein Hang zu
kleinen Albernheiten und Schabernack, was solche Bemerkungen provozierte. Und
nun eine solche Aufgabe, von außen an sie herangetragen! Was, wenn sie das entgegengebrachte Vertrauen enttäuschte? Es war eine außergewöhnliche Bitte, soviel ist klar. Sie brauchte sogar die Erlaubnis ihrer Äbtissin, die dieser Sache gegenüber ein wohlwollendes Interesse zeigte.
Und dann war da möglicherweise noch
die sich aus ihrer Profess ergebende Verpflichtung vor Gott: Anzufangen, ohne
Kommentar und Widerspruch (RB 68), wenn sie diese Bitte als Anruf Gottes verstand. Jedenfalls denkt sie in dieser Weise über diese Bitte nach. Welche Not! Schließlich stellt sie sich noch
ihren Leser und ihre Leserin (!)
vor, welche außerhalb des Klosters leben und vergleicht sich mit ihnen in ihren
Fähigkeiten. Welche Sprachgewandtheit sie doch haben mögen, während ihr Beruf
darin besteht, zu beten und zu schweigen, was sie bereits seit rund 20 Jahren
tut.
Betend wird sie ihren einzigen Ausweg gewählt haben, den Herrn um Trost und
Hilfe anzuflehen, um eine Antwort zu finden.
Wenn man sich in einer gewissen Notlage befindet, so ist auch
das Bewusstsein besonders empfänglich für Sätze, die auf die eigene Situation
passen. Schaut man sich nun also noch an, wann diese obigen Bibeltexte im
Kirchenjahr nach den Gebräuchen der Zisterzienser gelesen werden, so liegen
beide Texte in der Fastenzeit. Die fünf Bücher des Mose wurden zwischen der
Septuagesima und dem Passionssonntag täglich in den Vigilien und bei den
Mahlzeiten im Refektorium gelesen. Das
Buch Exodus und die Weigerungsversuche des Mose dürften demnach etwa um die
Mitte der zweiten Fastenwoche begonnen worden sein, also kurz nach dem Sonntag,
an dem die Bücher für die Fastenzeit verteilt wurden. Möglich, dass Hiltgart
bei diesem Anlass, also am ersten Fastensonntag mit ihrer künftigen Aufgabe konfrontiert wurde. So
konnte sie diesen Text ganz anders und auf sich bezogen hören. Mit dem Buch
Jeremia wird am Passionssonntag begonnen. Auch diese Geschichte nimmt sie noch
sehr lebhaft in sich auf und setzt sie in Bezug zu ihrer Arbeit. Sie hat also
scheinbar ganze vier Wochen gebraucht, um diesen Auftrag auch innerlich anzunehmen. Die
obigen Textstellen lesen sich dann wie die Antwort Gottes auf ihre
Unfähigkeitsargumente, als die Worte, die ihr den Mut und die Legitimation gaben,
diese Arbeit zu wagen. Dabei hat, ihrer Reihenfolge nach zu urteilen, der
Jeremiatext eine wohl höhere Bedeutung gehabt, denn die Worte sind wie eine
konkrete Handlungsanweisung gefasst und haben diese Arbeit offenbar begleitet. Im Kontext des zu dieser Zeit nahen
Osterfestes und der ganzen Hinwendung eines gläubigen Christen auf dieses
Ereignis, dürfte die Zeit nach dem Passionssonntag jenes Jahres mit diesem konkreten Text ihr Zaudern überwunden
und ihr inneres „Ja“ bewirkt haben. Aus solcher Haltung heraus ist es auch nicht
erstaunlich, dass das entstandene Werk eine möglichst wortgetreue Übersetzung
ohne vorsätzliche Kürzungen oder selbstgefällige Textkritik ihrer Vorlage ist. Sie
hat ihre Arbeit nach absolut bestem Wissen und Gewissen erledigt.
Ihre
Motivation zu diesem Werk aber nimmt sie noch aus einer weiteren Quelle. Denn
sie sagt deutlich, dass der sie beauftragende Kaisheimer Bruder Rudolf diese
Arbeit viel besser hätte ausüben können, wenn ihn nicht seine Demut daran
gehindert hätte.
Was immer daran stimmen mag, in ihrer persönlichen Wahrnehmung hatte dieser
Bruder für sie dieses Charisma eines tugendhaften geistlichen Lehrers. Diese, so fährt sie fort, habe sie bezwungen und dazu ermutigt, den Kampf mit
der eigenen Nachlässigkeit aufzunehmen.
Mögen Historiker und Germanisten einen Anklang() an traditionelle Demutsformeln
diagnostizieren – so redet niemand, der nur äußerlich einen rituellen Gestus
abspult. Ihre größere Sorge ist es, dass ihr jemand Nachlässigkeit und Trägheit
unterstellen würde, während sie sich scheinbar damit arrangieren kann, dass sie
jemand trotz aller geleisteten Sorgfalt für unfähig hält.
So gesehen, ist es wohl nicht uninteressant zu bemerken, dass sie den großen Aristoteles
nicht nur als einen Liebhaber der
Weisheit, sondern zudem als Prüfer
der tugendhaften Reinheit bezeichnet.
Es
geht aus dem Text nicht hervor,
wielange diese Arbeit sie beschäftigt hat. Den Zeitpunkt des Beginns
aber könnte man, wenn man obige Beobachtungen einfließen lässt und die
Jahreszahl beachtet, noch genauer bezeichnen. Das zisterziensische Jahr
1282 begann mit dem 25. März. Dieser Tag war in jenem Jahr der Mittwoch
in der Karwoche. Somit hätte sie etwa um Ostern herum ihre Zusage gegeben und mit ihrer Übersetzung begonnen. – Hiltgart
von Hürnheim hat im Kloster keine größere Karriere gemacht. Letztmalig
historisch fassbar wird sie als Schwester im Zeugendienst in einer Urkunde vom
07. April 1299 für ihr Kloster.
Es ist nicht bekannt, dass sie Priorin oder Äbtissin geworden wäre. Aber sie
hat Zisterziensergeschichte geschrieben: die Geschichte eines hochbegabten
Menschen, der die gestellten Aufgaben annahm um primär Gott zu gefallen.