Dienstag, 24. November 2020

Eine Grangie im 21. Jahrhundert

Das Wort Grangie leitet sich von seinem Verwendungszweck her, ein Gebäude zu sein, in dem man Korn aufbewahrt (lateinisch "granum"). Schon in der Bibel ist von solchen Vorratshäusern die Rede, wenn man beispielsweise an den Kornbauern denkt, der wegen einer reichen Ernte Neubaupläne hegt (vgl. Lk 12, 16-21). Da diese Getreidespeicher allerdings mit dem landwirtschaftlichen Aufschwung und der Bewirtschaftung größerer Flächen typisch für zisterziensische Lebenskultur wurden, ist das Grangienwesen zum Charakteristikum der Zisterzienser geworden. Dabei haben sich entsprechend dem Stil ihrer Bauten auch typische Formen dieser Gebäude herausgebildet. Man kann darüber philosophieren, ob das hier und da beabsichtigt war oder vielleicht nur heute so erscheint. Denn einheitliche Wirtschaftsform, gleicher Verwendungszweck und gleiche Sozialisierung sind ja doch für sich genommen schon starke Einflussgrößen für einen einheitlichen Stil. 

Wegen dieser Einmaligkeit steht das Wort Grangie symbolisch für die zisterziensische Wirtschaftsform. Ein solches Gebäude ist Teil einer gewachsenen zisterziensischen Kultur wie auch die Kirchen und Klöster.

Wenn es nun das Anliegen unserer Lebensweise ist, authentisch vom Ursprungscharisma her zu leben, dann macht es durchaus Sinn - wo es sich machen lässt - das Alte aufzugreifen und in neuer Form für heute zu gestalten. Denn das Zeichenhafte und Symbolische steht für den angestrebten Geist, der durch solche Hallen wehen möge.

Daher ist es wohl nicht besonders überraschend, wenn eine Gemeinschaft, die Landwirtschaft betreibt und neue Wirtschaftsgebäude benötigt, diese im ordenstypischen Stil zu bauen wünscht. So richtet sich der Blick aktuell nach Frankreich, genauer gesagt nach Boulaur, wo, begleitet von einem Filmteam, derzeit eine echte zisterziensische Grangie entsteht. Vom ersten Spatenstich bis zur Inbetriebnahme wird hier der Werdegang unter echten monastischen Bedingungen dokumentiert. Ein Crowdfoundingprojekt wirbt derzeit um Unterstützer dieser Sache. 

Ich halte dies für ein gelungenes Beispiel heutiger Zisterzienserinnen, sich dem reichen Erbe ihres Ordens zu stellen, im Heute neue Akzente aus alter Tradition zu setzen und damit aktuelle Zisterziensergeschichte zu schreiben. Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen oder den Konvent vielleicht auch dabei unterstützen möchten, schauen Sie auf der Webseite der Abtei Boulaur (www.boulaur.org) unter dem Stichwort "Grange 21" nach...

Mittwoch, 4. November 2020

1294 - Helfta "in höchster Furcht vor dem König"

Das Kapitel elf des vierten Buches des Liber specialis gratiae spielt auf den ersten Thüringenfeldzug des Königs Adolf von Nassau 1294 an, der nicht weit entfernt von unserem Kloster stand. Die einleitenden Worte, es habe höchste Furcht geherrscht, und sie wären nicht weit entfernt gewesen, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass es jederzeit möglich war, dass die königlichen Truppen einfallen konnten. So nahm die ältere Geschichtsschreibung - natürlich ohne diesen Text als Quelle einzubeziehen - an, dass nicht der alte thüringische Gerichtsort Mittelhausen bei Erfurt der Lagerplatz des Heeres war, sondern Mittelhausen bei Farnstädt. Von dort waren es bloß 13,9 km Fußweg bis Helfta. In etwas mehr als zwei Stunden zu Fuß zu schaffen, während das andere Mittelhausen, das in jüngerer Zeit postuliert wurde, 76 km weit weg ist, was den Superlativ der höchste(n) Furcht nicht erklärte.

Wie aber, wenn dem Gesagten, das ja bei den Zeitgenossen nur Wirkung entfaltet hätte, wenn es Wahres, ja Nachvollziehbares, in den Kontext der überirdischen Wirklichkeit stellte, also ein wirkliches Wunder berichtete, tatsächlich Quellenwert zugeschrieben werden würde? 

Das strategische Konzept Adolfs wäre dann natürlich zu überdenken, wenn das Mittelhausen ein anderes gewesen wäre. Vom Mittelhausen bei Farnstädt konnte er sowohl rasch ins Osterland als auch nach Thüringen ziehen. Dann wäre der Lagerplatz wohl weniger eine symbolische Siegerpose gewesen, als vielmehr ein günstiger Ausgangspunkt, der viele Wege offen ließ. Doch ein Ort ist in Mechtilds Buch nicht genannt.

In dem kurzen Text über den König heißt es, Helfta sei verschont geblieben, obwohl viele andere Klöster von schwersten Schäden betroffen wurden. Zu fragen wäre deshalb, wie es den Klöstern rings um Mittelhausen in Sachsen-Anhalt erging, ob es Hinweise baulicher, urkundlicher, archivalischer Art gibt, die in der Zusammenschau der Befunde auf solche Gewaltakte in der Region hindeuten. Diese Klöster wären Klosternaundorf, Holzzelle und Sittichenbach, vielleicht auch St. Cyriakus in Wimmelburg. Wenn es dorthin Übergriffe gegeben hätte, dann wäre es in der Tat berechtigt gewesen, sich als nächstes Opfer zu vermuten und Tage höchster Angst zu verleben.



Freitag, 23. Oktober 2020

Bildmaterial zu Mechtild von Hakeborn - eine Anregung

Verschwunden und vom Zahn der Zeit zerfressen - so könnte man das beschreiben. 

Eine Suche nach bildlichen Darstellungen, seien es nun Skizzen, Gemälde oder Skulpturen, bringt bisher wenig Ertrag. Allein die Erwähnung der Matelda in Dantes Göttlicher Komödie und die kurz in diesem Blog (im März 2020) erwähnte und verlinkte Federzeichnung des Hieronymus Bosch spricht jedoch für eine gewisse Bekanntheit und Verehrung dieser Mechtild bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein. Ist wirklich fast alles verschwunden?

Nun sind die meisten ZisterzienserInnenkirchen in ihrer Ausstattung eher barocklastig, pflegen also den Stil einer Zeit, in der Mechtilds "Stern" bereits im Schatten ihrer Mitschwester Gertrud stand. Doch wie ist es mit dem Bestand von Dorfkirchen, die einst zu Klöstern gehörten? Um Mechtild zu finden, müssten - neben heutigen - vor allem Darstellungen von vor 1517 unter den Heiligen in Altären, Deckengemälden, Figurengruppen und Statuen einmal gezielter untersucht werden. Wie wurde sie dargestellt? Ähnlich wie Gertrud, sodass eine ursprüngliche Mechtild später problemlos zu einer Gertrud werden konnte?

Da das kommende Jahr Dante Alighieri feiert, könnte es reizen, alte Illustrationen seiner Werkausgaben einmal auf ein solches Bildmaterial hin zu untersuchen. Darin könnten zudem am ehesten noch nachreformatorische Darstellungen zu erwarten sein. Und wer von diesem Werk als Künstler beeindruckt war, hätte - ähnlich wie Bosch - durchaus ein Motiv gehabt, die kleine Begegnung mit Mechtild zu malen, z.B. auch als den zu besteigenden Berg mit den Stufen zum Paradies...

Im Kloster ist die Möglichkeit begrenzt, in solcher Sache suchend unterwegs zu sein. Doch da Mechtilds Werk heute interessiert, könnten sich ja vielleicht Menschen finden, die helfen, solche Verweise zusammenzutragen...

Da mich das Werk der Mechtild immer wieder beschäftigt, beabsichtige ich, in nächster Zeit einen gesonderten Blog zu ihrem Werk zu starten.

Freitag, 16. Oktober 2020

Von einem Ort zum andern - ein Segen?

Gemeinhin wird man die Frage nach dem Segen eines Ortswechsels mit 'Nein' beantworten. Denn es widerspricht in Klöstern, die nach der Regel des hl. Benedikt leben, dem Gelübde der Stabilitas. Allerdings kommen Umzüge dennoch vor, aus vielfältigen und auch individuellen Gründen. Es gibt ein stilles Wandern von Haus zu Haus. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Es betrifft auch nicht die Mehrheit der Ordensleute.

Zwei Ereignisse sind allerdings besonders geeignet, Ortsveränderungen abzunötigen: Neugründungen und Klosterauflösungen. Der große Unterschied dürfte im Anlass liegen, denn die erste Gruppe bringt Elan mit, manchmal auch das, womit es andernorts Probleme gab. Die zweite Gruppe kennzeichnet Traurigkeit und Wehmut. Der Energiepegel steht kurz vor der vollständigen Akkuentladung. Sie haben etwas verloren, was ihnen sehr lieb war: Ihr Zuhause.

Nichtsdestotrotz kann dies auch positive Folgen haben, gibt doch die neue Mischung am neuen Ort denen, die zuvor noch bis zum Umfallen arbeiteten, nun ein ruhigeres Umfeld zum Einleben, und es verändert dieses Dasein allein durch die Anwesenheit über die Zeit auch die Gemeinschaft am neuen Ort. Und darin liegt eine Chance! Betagte Schwestern haben mitunter viel Lebenserfahrung, die sie einbringen können. Und sie haben gelernt, zu beten, während jüngere Schwestern regelmäßig viel auf ihre eigene Leistung und Intelligenz setzen. So ist eine Auflösung nicht immer nur Drama, sondern auch Geschenk am neuen Ort.
 
Doch auch der erstgenannte Fall bietet Ambivalentes, gerade dann, wenn zuviele und zuviele unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichsten Gemeinschaften eine Neugründung bevölkern. Es dauert mitunter Jahre und Jahrzehnte, bis eine einheitliche Linie gefunden ist, die das Positive aller aufnimmt, bis also eine Gemeinschaft im engeren Sinn entsteht (z.B. auch, wenn Menschen verschiedener Ordensgemeinschaften sich mit der Absicht eines Übertritts sammeln). Ein solches Werden steht und fällt mit der Bereitschaft jedes einzelnen Mitglieds, sich einzubringen, aber auch zurückzunehmen, wo es not tut. Und natürlich ist es dann wichtig, sich auf die Spiritualität des neuen Ordens einzulassen. Wer zuvor franziskanische Wurzeln hatte, erlebt die Praxis benediktinischer Armut anders, denn hier lag der Schwerpunkt schon immer darauf, in Gastfreundschaft dienstbar zu sein. Nicht jeder schafft es, dann auf die zuvor gelebten Prämissen zu verzichten, anders zu werden.

Ortsveränderung ist immer Arbeit! Handgreifliche und geistliche.

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Monastische Lebensdaten

Jeder weiß, dass der Eintrittstag, der Einkleidungstag und der Professtag wichtige klösterliche Daten im Leben einer Ordensfrau sind. Sie sind verbunden mit Wünschen, Hoffnungen und Emotionen. Das macht ihren Erinnerungswert aus. Für den Nichteingeweihten sind es ganz schlichte Zahlen, deren Bedeutung sich nicht von selbst erschließt, wenn solche Zahlen im Vorspann einer Bibel oder eines Gebetbuches auftauchen. Mit einem Menschen geht oft auch seine Geschichte unter.

Kürzlich fand ich eine solche Zahlenreihe in einem Gebetbuch, deren Überschrift besonders bemerkenswert die positive Verarbeitung zeigt, die mehr als ein Zisterzienserinnenkloster betrifft:


Was steckt dahinter?

1951 Klostereintritt, dann die üblichen Daten von Einkleidung und Erstprofess, dann ein Austritt, eine Pause...

ein neuer Eintritt...

und noch ein Eintritt...

dann eine größere zeitliche Pause und schließlich ein letzter Eintritt usque ad finem...

Manchmal kostet ein Klostereintritt eine Menge Geduld!


Freitag, 25. September 2020

Ordenskultur als Einheitsbrei - was Medien vermitteln

Ist Ordenszugehörigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung Einheitsbrei bzw. immer noch Einheitsbrei?

Ich frage mich das deshalb, weil hinter den Fragen von Journalisten ja oft Konzepte für Stories stecken, die wiederum entweder einer Zielgruppe entsprechen sollen oder als Botschaft vermittelt werden. Natürlich gibt es viele, die wissen, was Zisterzienser sind und die dann die schönen Bauten von verschiedenen Urlaubsreisen im Inneren Revue passieren lassen können, wenn sie das Stichwort Zisterzienserin hören. Doch abgesehen von der Kunst, die man natürlich noch weithin einordnen kann - ist Orden gleich Orden und Nonne gleich Nonne? Ist das in unserer Welt der traurige Rest des Wissens über Institutionen, denen wir einen Großteil unserer abendländischen Kultur verdanken?

Was weiß so mancher Christ in verantwortungsvoller Stellung, der Wissen medial an die Leute bringt, vom Christentum? Okay - das Mönchtum ist heute nicht der Nabel der Welt. Aber es brauchte doch tatsächlich nur einen Orden, wenn Unterschiede gleich Null wären. Reduziert sich selbst kirchenintern das Ordensleben auf die Trias des CIC: Armut, Gehorsam, Keuschheit? Die gleichen Leute, die in ihren Gärten sicher mehr als eine Blumensorte kultivieren, finden Ordensleben als Monokultur absolut ausreichend. Und was kommt dabei dann heraus?

Vor vielen Jahren besuchte ich einmal eine der vielen historischen Zisterzienserstätten in unserem Land und nahm an einer Führung teil. Die die Gruppe durch das Gelände führende Dame erklärte den Leuten dabei ganz selbstverständlich, dass die Mönche dort nach der Regel Benedikts gelebt hätten und Armut, Gehorsam und Keuschheit gelobt hatten. Wusste sie es nicht besser? Es ist wohl zu verlockend, mit einer griffigen Formel alle gleichzusetzen! Gerade, wo Wissen vermittelt werden soll, kann man sich nicht an falsches Allgemeinwissen anbiedern.

Weniger lang ist es her, als mich nach einer Führung für eine Schulklasse, bei der ich die Schöpfungsgeschichte zu Hilfe nahm, um den Kreuzgarten zu erklären, die Lehrerin im Anschluss beiseite nahm und mir erklärte, dass solche Bilder rein gar nichts bewirken, wenn man sie nicht kennt. Sie hatte sich wohlgemerkt nicht daran gestoßen, dass ich den Begriff Kloster aus dem Lateinischen herleitete, das hätte man ja durchaus als zu anspruchsvoll für manch eine siebte Klasse ansehen können, ihr Argument war, dass die Bilder der Schöpfungsgeschichte nicht mehr bekannt sind. Das bedeutete, wenn ich das glauben soll, dass Siebtklässler nicht mehr wissen, wer Adam und Eva waren. Wenn die Paradiesgeschichte aber nicht mehr da ist, wie soll man da vermitteln was die Intention klösterlichen Lebens ist, wie es der Lehrplan der siebten Klasse eigentlich vorsieht? Ist Klosterleben dann ein ganzjähriger Maskenball für schräge Vögel, die gerne in alten Gemäuern zu Hause sind und für Deko-Zwecke gut sind? Ist es nicht Aufgabe einer Bildungseinrichtung, wenigstens ein paar Basics über das Christentum zu vermitteln?

Was ergibt sich historisch aus Vereinfachungen und Gleichmacherei, vielleicht in der Suche nach dem vermeintlich 'Richtigeren'?  Im 12. Jahrhundert kannte jeder die Zisterzienser bzw. die Werte der damals neuen Orden. Die alten waren mit ihren Gebräuchen nicht mehr so interessant. Im 13. Jh. war es die nachhinkende Welle der Frauenklostergründungen, waren es die Franziskaner und Dominikaner, die auch die älteren Orden nun mit ihren Impulsen mitprägten. Danach kamen in ihrer prägenden Bedeutung Kartäuser und Birgitten, obwohl die ersteren schon älter waren. Dann trugen die Karmeliten und Jesuiten ihre Ideen in die Ordenswelt hinein. - So kann man sich dann auch erklären, dass eine historisch gewachsene Zisterzienserinnenbibliothek wie beispielsweise die von Eschenbach, in ihrem  Bestand bevorzugt jesuitische Bücher als Schwerpunkt hatte. - Und: Spätestens nach der Säkularisation zog man vermutlich den Habit eines dem Wohnort nächstgelegenen Klosters an, und unterschied sich dann in ein paar äußeren Gebräuchen, während die Spiritualität der Ordensgemeinschaften eine vergleichbare Ausrichtung hatte. 

Ich kann es nicht besser formulieren, doch vielleicht versteht jemand das umrissene Problem. Während die Wissenschaft sich alle Mühe gibt, die Unterschiede im Detail herauszufinden, gab es vor allem in der jüngeren Geschichte ab dem 19. Jh. im gelebten Vollzug eine Nivellierungstendenz, bei der es im schlimmsten Fall ausreichte, die richtige Habitfarbe zu tragen und die Biografie von Bernhard, Benedikt oder Franziskus als Identitätsmerkmal zu kennen. So ist eben 'Nonne' nicht einmal mehr ein zusammenfassender Oberbegriff wie 'Blume', sondern schon die letzte Spezifizierung, weil ja die Unterkategorien im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein kaum mehr existieren. 

Und so nährt ein Journalist ein bekanntes Klischee, wenn er, wie mir kürzlich passiert, fragt, wieso ich in Helfta eintrat, wo es doch soviele Schulschwestern in meiner Heimat gäbe, die sich über Nachwuchs gefreut hätten.

Montag, 20. Juli 2020

Medizinische Begutachtung einer Mystikerin - Mechtild von Hakeborn: Eine Diagnose

Sie war eine ungemein vielseitige und kenntnisreiche Ordensfrau - ab 50 wurde sie krank. Aber gerade als ob ihre große Begabung noch nicht ganz ausgeschöpft ist, zeigte sie nun in ganz anderer Weise die Größe und Tiefe ihres Geistes. Kranksein ist in jedem Leben eine Art Ausnahmezustand, der herausfordert. Und hier zeigt sich für einen Ordenschristen auch die Reife seiner Hoffnung am deutlichsten. - Doch woran litt sie eigentlich? Kann man aus den quer durch das Buch gesäten Hinweisen (gemeint ist der Liber specialis gratiae) Anhaltspunkte für eine Diagnose finden?

Der wichtigste allgemeine Grundsatz zuerst: Das Häufige ist häufig.

Benediktinisch-zisterziensich lebende Ordensfrauen haben einen Schleier und ein langes Gewand und befinden sich den überwiegenden Teil ihres Lebens in geschlossenen Gebäuden, mal betend, mal arbeitend, mal lesend. Damit fehlt der Haut das Sonnenlicht, ist ihr Spiegel an Vitamin D nicht gerade hoch. Mechtild von Hakeborn war Schulleiterin, Novizenmeisterin, Bibliothekarin, Leiterin des Scriptoriums und Cantorin - alles Tätigkeiten, die dafür sprechen, dass auch sie nicht viel an die Sonne gekommen ist. Das bedeutet, dass sich über kurz oder lang eine Störung im Knochenstoffwechsel eingestellt hat, z.B. bei extremem Vitamin D3-Mangel ein sekundärer Hyperparathyreoidismus mit Osteomalacie, die sogenannte renale Osteopathie, resultierend in Muskelschwäche, diffusen Knochenschmerzen und hepatischer Osteodystrophie. Die Knochenschmerzen entstehen durch Umbauprozesse und gelenknahe Verkalkungen. Bildung von Calciumoxalatsteinen, damit Nierenkoliken. Die Symptomentrias "Stein-Bein-Magenpein" wäre hier also durchaus zu unterstellen. Hinzu kommt in diesem Alter noch die durch Hormonveränderungen bedingte Osteoporose.

Liest man das einleitende Kapitel über Mechtild in ihrem Buch, so ist zu erfahren, dass sie ein Steinleiden, Kopfschmerzen und 'Hitze der Leber' also ein unspezifisches Oberbauchgefühl hatte [vgl. Vorwort zum erstenTeil]. Alle drei Symptome wären in ihrer Genese durchaus mit obiger Ursache zu vereinbaren. Umbauprozesse im Übergang vom Kopf zur Halswirbelsäule können Kopfschmerzen verursachen, Schmerzen Verspannungen - ein circulus vitiosus. Doch hier dürfte im Laufe der Erkrankung noch viel mehr die chronische Niereninsuffizienz mit den entsprechenden Folgen, z.B. Bluthochdruck verantwortlich sein. Kreislaufveränderungen, ein pochendes Herz wird im Buch beschrieben. Auch psychotische Veränderungen (Halluzinationen) kommen vor. Im Kontext dieses komplexen Erkrankungsbildes steht auch die oft im Buch beschriebene Schwäche. Veränderungen an der Wirbelsäule können zudem Nervenreizungen mit ischialgiformen Beschwerden hervorrufen, die ebenso beschrieben sind z.B. "dass der Schmerz dich bis zu den Knien erfasst"[Kapitel XXXIX].

Eine andere Sache sind die häufigen Ohnmachten im Chor, beschrieben in mehreren Kapiteln zu Beginn des zweiten Buches. Dass sie als Hauptkantorin mit vollem Einsatz sang, ist u.a. im dritten Teil [Kapitel VII] beschrieben. Nun gibt es ja Menschen, deren Blutdruck in den Morgenstunden nicht besonders hoch ist, was im Verein mit Schwäche zu Ohnmachten führen kann. Angesichts der oben beschriebenen Symptomatik halte ich diese Genese für nicht so logisch. Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, den sogenannten Euler-Liljestrand-Reflex. Areale in der Lunge, die nicht belüftet sind, werden auch nicht durchblutet. Wenn man in der Nacht als Mensch mit Schwäche und einem gewissen Alter im Bett liegt, können nichtbelüftete Lungenbereiche mehr werden, gerade beim Schlaf in Rückenlage ohne große Bewegung. Wenn solch ein Mensch nun z.B. zum Einsingen Tiefatmungen und Atemübungen macht, könnten solche Lungenbezirke plötzlich wieder am Gasaustausch teilnehmen, werden somit auch wieder durchblutet, womit durch die Blutumverteilung ein Blutdruckabfall resultiert.

Die vorliegende Symptomatik ist medizinhistorisch interessant, weil sie einen Verlauf jenseits der heute üblichen Behandlungsmethoden, inklusive der Schmerzmittel, dokumentiert. Religionsgeschichtlich offenbart sie die Art der Verarbeitung ihres Leidens. Und ihre hohe Bildung und Gottesbeziehung machten daraus das entstandene Werk.

Dienstag, 26. Mai 2020

Medien und moderne Kommunikationsmittel im Kloster

Der Einzug von Neuerungen in Klöster hinkt naturgemäß etwas hinter der allgemeinen Verbreitungsgeschwindigkeit hinterher. Doch der Segen der modernen Kommunikation hat mittlerweise auch den Klöstern den PC, den Laptop und das Handy gebracht, wobei es in der Verbreitung natürlich noch sehr unterschiedlich zugeht. Es gibt Klöster, die mit drei PC's (einen für die Äbtissin, die Ökonomin und einen für alle anderen) im ganzen Haus auskommen und andere, in denen fast jeder einen für seinen Dienst braucht. Das liegt auch an den jeweiligen Aufgaben eines Klosters und an klösterlichem Produktmanagement. Gänzlich ohne PC aber geht es wohl heute nicht mehr, auch deshalb, weil er die Schreibmaschine inzwischen vollständig ersetzt hat. Doch wann und wie fing es an mit den Instrumenten moderner Kommunikation in den Frauenklöstern des Zisterzienserordens?

In einer alten CistercienserChronik (8/1896, S. 56) fand ich den folgenden Hinweis zum Telefon:

"Gebrauch des Telephons in Frauenklöstern. Der Beichtvater eines Klosters der Cistercienserinnen von der strengen Observanz (San Ildefonso en Feror Las Palmas auf Gr. Canaria) wohnt von diesem etwas weiter entfernt, infolge dessen er zum Sterbefall einer Schwester nicht mehr rechtzeitig ankam. Der dortige Bischof (von Canaria) bat nun beim hl. Stuhl um die Erlaubnis, dass zwischen der Wohnung des Beichtvaters und dem Kloster eine telephonische Verbindung hergestellt werde. Die Congreg. f. d. Bischöfe und Regularen ertheilte nun die Bewilligung unterm 20. März 1895, und zwar für den Fall der Nothwendigkeit, den Beichtvater zu verständigen,unter Beobachtung der nöthigen Vorsichten, damit keine Ungehörigkeit vorkomme..."

Von der Erfindung 1861 (Philipp Reis) und der ersten praktischen Anwendung 1876 (Alexander Graham Bell) hatte es nur knapp 20 Jahre gedauert, bis sich annehmbare Gründe für eine interne Verwendung in einem Frauenkloster fanden. Es ist anzunehmen, dass es kein päpstliches Dokument gibt, welches die Anwendung in einem Männerkloster eigens erlaubt. Aber immerhin liefert diese Mitteilung zwei Fährten, wo sich solche Informationen finden lassen. Möglicherweise könnten auch alte Klosterrechnungen solche Hinweise liefern.

Die CistercienserChronik scheint mit dem Erscheinen ab 1889 auch in den Frauenklöstern gelesen worden zu sein. Ab wann leisteten sich die Frauenklöster eine Tageszeitung?

Ebenso schwierig zu beantworten ist die noch nicht so lange zurückliegende Einführung des PC's. Wann fand der erste Computer in ein Frauenkloster? Hierbei von der Gegenwart auf die Vergangenheit zurückzuschließen, würde bedeuten, dass irgendwann einmal eine Kandidatin einen mitbrachte. Sicher ist, dass Ende der 1990er Jahre ein Klosteraufenthalt auch schon per Email angefragt und bestätigt werden konnte.

Zuvor aber hatte noch eine andere Erfindung kurzzeitig einen Platz im Kloster. In den 80er (???) Jahren löste der Piepser die Verständigung über die Glockenzeichen ab. Dieser wurde mancherorts (etwa um das Jahr 2010) durch das Handy abgelöst. Zunächst natürlich für diejenigen, die wichtige Funktionen innehatten.

Aber - weitergefragt: Wer unter den zisterziensischen Frauenklöstern hatte die erste Internetpräsenz, und wann war das? Welcher Orden war Vorreiter dabei mit seinen Klöstern? Unser Orden hat etwa um das Jahr 2004/5 einen ersten Blog eingerichtet, der ein gutes Medium ordensinterner Verbindung wurde. Zum wohl ersten offiziell hausintern erlaubten Blog einer Zisterzienserin lässt sich meinerseits Genaueres sagen: Er kam aus dem Kloster Seligenthal und ging Ende 2011 unter dem Namen "Nonnenleben. Nonnige Gedanken und Abenteuer" an den Start.

Mittlerweile geht die Technik weiter vorwärts. Seit der Coronakrise sind Internetkonferenzen häufiger und Livestreams notwendig geworden.

Nicht erwähnt wurden in dieser Zusammenschau Radio und Fernsehen. Dies alles nur als Anregung, einmal diese Entwicklung nachzuzeichnen, anlässlich meines Stolperns über jenes Zitat von 1896.

Man könnte mit anderem Blickwinkel auch einmal die mediale Präsenz von Ordensleuten in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien in ihrer Entwicklung nachverfolgen.

Was es im Bereich der Nutzung und Einführung der Kommunikationsmittel definitiv gibt, sind Gender-Unterschiede.



Montag, 27. April 2020

Innocenz IV. privilegiert die Zisterzienserinnen

Während des Thüringischen Erbfolgekrieges 1247 - 1264 mischte sich der Papst ganz aktiv in das lokale Geschehen ein. Die folgende Urkunde vom 05. Juni 1249 aus dem Stadtarchiv in Nordhausen (StadtA NDH, Best. 1.2./ II Ob 2, S. 349f.), die heute nur noch kopial überliefert ist, könnte dabei der Anreiz für die Stifter gewesen sein, Frauenklöster zu gründen. Denn in jenen Jahren sind eine ganze Reihe thüringischer und hessischer Frauenklöster zisterziensischer Prägung neu entstanden, die es allerdings langfristig nicht immer schafften, selbst wenn sie Abkömmlinge anerkannter Zisterzienserinnenklöster waren, was im Detail auch noch zu erforschen wäre, den gleichen Status zu bekommen, wie ihre Mutterklöster. Hier sehe ich einen interessanten neuen Aspekt in der Forschungsgeschichte Mitteldeutschlands. Nach meinem Empfinden wirft die folgende Urkunde noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Blütephase der Zisterzienserinnenklöster. Sie ist meines Wissens die einzige, die je von einem Papst an die Äbtissinnen des Ordens gerichtet wurde. Es muss davon mit Sicherheit Abschriften in anderen Klöstern gegeben haben. Der Zeitpunkt war äußerst günstig: Der Mainzer Stuhl war vakant. Und dass die Überlieferung so gering ist, verwundert auch nicht, denn die meisten thüringischen Klöster sind bischöflichen Rechts gewesen bzw. geworden. Hier der Text der Urkunde, die sich nur bei Dobenecker (III, 1726) und Förstemann (Neue Mitteilungen aus dem Gebiet hist.-antiqu. Forsch. 13/4 1874, S. 546f.) als Regest findet, nicht aber bei Potthast (von mir transkribiert, ergänzt [ ] und übersetzt):

Innocentius Episcopus servus servorum Dei dilectis in Christo filiabus Abbatissis earumque conventibus universis Cister[c]i[i] ordinis salute[m] et apostolicam benedictionem.

Solet annue sedes apostolica piis votis ex honestis petentium precibus favorem benevolum impartiri. Eapropter dilecta in Christo filia vestris iustis postulatibus grato concurrentes assensu ut eisdem privilegiis et indulgentiis vobis conpetentibus quibus ordo vester munitus dinoscite uti lib[er] valeatis, plenam vobis concedimus authorit[a]te praesentium facultatem. Nulli ergo omni[no] hominum liceat hanc paginam nostrae con[ci]onis infringere vel ei ausu temerario contra[ire] signis autem hoc attentare praesumpserit in[di]gnationem omnipotentis Dei et beatorum Pe[tri] et Pauli apostolorum eius se noverit incursu[m].

Datum Lugdunum Nonis Junij pontificatis Annorum 6.


Innocenz, Bischof, Diener der Diener Gottes, den in Christus geliebten Äbtissinnen und ihren Konventen des Zisterzienserordens Heil und apostolischen Segen. Aus den ehrenwerten Gesuchen der sich an ihn wendenden, pflegt der apostolische Stuhl jährlich, frommen Bitten eine wohlwollende Begünstigung zu gewähren. Deshalb, in Christus geliebte Tochter, da Eures Rechtes Bittgesuche auf willkommene Zustimmung treffen, gestatten wir Euch mit unserer Autorität auf Eure Bitten hin das volle Recht des hier genannten. Nehmt also zur Kenntnis, dass ihr dieselben Privilegien und Nachlässe frei gebrauchen könnt, mit denen Euer Orden ausgestattet ist. Keinem Menschen sei es erlaubt, diese Seite unserer Rede zu entkräften oder sich ihr mit tollkühnem Wagemut entgegenzustellen; wagte er jedoch dies anzutasten, möge er wissen, dass er sich in die Ungnade des allmächtigen Gottes und der seligen Apostel Petrus und Paulus hineinstürzt.
Gegeben zu Lyon in der Non des Juni des sechsten Jahres des Ponitifikats.

Samstag, 21. März 2020

Hieronymus Bosch, Dante Alighieri und Mechtild von Hakeborn

Vielleicht ist das eine seltsame Zusammenstellung - ich finde sie spannend. Ein Bezug zwischen Dante und Mechtild wird ja schon lange diskutiert. Dabei geht es darum, dass jene Matelda, die dem Autor Blumen pflückend am Rand des Gotteswaldes begegnet, Mechtild sei. Was aber könnte Hieronymus Bosch damit zutun haben?
Die Beziehung zwischen Mechtild von Hakeborn und Hieronymus Bosch erfolgt über ein Sprichwort, das bei beiden vorkommt: Der Wald hat Ohren, das Feld hat Augen. Bei Mechtild wird das Sprichwort allegorisch gedeutet. Hieronymus Bosch malt es in einer Federzeichnung. - Auch das kann mal vorkommen. Mir scheint jedoch, das Bild des Hieronymus hat einen inhaltlichen Bezug zur Vision der Mechtild von Hakeborn im Liber 2, Kapitel 22 des Liber specialis gratiae. Ich habe diesen in einem Artikel dargelegt, der in Heft 1/2020 der CistercienserChronik erscheint. [An dieser Stelle ist wirklich zu bedauern, dass das entsprechende Kapitel in der neuen englischen Ausgabe der Werke Mechtilds fehlt.]
Der Wald des Hieronymus hat zwei Ohren. In dem einen ist mitten in einem Wäldchen eine Frauengestalt mit Schleier skizziert. Das andere Ohr hat die Umrisse eines Männerkopfes. Wenn, wie es scheint, die Frauengestalt Mechtild ist, wer ist dann der Männerkopf am Rand des Wäldchens? Bosch selbst (zumal er die Federzeichnung gegen Ende seines Lebens anfertigte)? Es wäre eine Interpretationsmöglichkeit. Aufgrund des gemalten Wäldchens, der Augen als Blumen und dem Kontext der das Sprichwort behandelnden Vision bei Mechtild, könnte es auch Dantes Kopf sein, am Rand des Gotteswaldes. Hier der Link zum Bild, das sich heute im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befindet, in dessen Blog ich es fand.
Vielleicht finden sich in Literatur und Kunst des 14. bis 16. Jahrhunderts ja noch weitere Bezüge einer literarischen und künstlerischen Verarbeitung von Mechtilds Visionen. Ich sage es noch einmal: Für mich ist das sehr spannend und vertiefungswürdig.

Freitag, 20. März 2020

Adam von Sankt Viktors gesungene Predigt

Bei der Lektüre des Liber specialis gratiae finde ich es manchmal recht spannend, Texte auszugraben, die heute nicht mehr so vertraut sind. Da die Zisterzienser das Marienlob seit der Anfangszeit pflegen, mag es nicht verwundern, dass die Mariensequenzen, die bis auf eine Ausnahme mit der Liturgiereform des Konzils von Trient untergegangen sind, dort mit dem einen oder anderen Zitat erwähnt sind und somit zum Aufhänger einer Reflexion werden, der nicht so schnell zu folgen ist, wenn man den Text nicht präsent hat. Eine solche Sequenz stammt von Adam von St. Viktor, der seine Predigten gerne vertonte. Mechtild spielt in ihrer Reflexion (Liber I, Cap. XXXVII) auf Maria als Tempel an. Hier der deutsche Text des Ave Maria...virgo serena:

Gruß Dir , Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mir Dir, fröhliche Jungfrau!

Unter den Frauen bist Du benedeit,
die den Menschen den Frieden geboren
und der Engel Ehre ist.

Gesegnet sei Deines Leibes Frucht,
die uns durch Gnade zu Miterben macht,
damit wir Sein (Eigen) würden.

Nämlich durch dieses Ave,
das der Welt so süß,
hast Du gegen das Recht des Fleisches
ein Kind geboren:
durch den neu geborenen Stern
den neuen Glanz.

Du warst des Erlösers Christi Tempel,
des Geringen und Großen,
des Löwen und des Lammes,
doch unberührte Jungfrau.

Du, der Blüte und des Tautropfens, 
des Schafes und Hirten der Jungfrauen  
Königin:
als Rose ohne Dornen
wurdest Du zur Gottesmutter gemacht.

Du Stadt des Reiches der Gerechtigkeit
bist Mutter der Barmherzigkeit,
indem Du vom Teich des Auswurfs und der Not
den Gott liebenden durch die Gnade verwandelst.

Dich rühmt der himmlische Hof,
Dich verehren wir mit unserer Hingabe,
durch Dich wird dem Schuldigen Gnade zuteil,
durch Dich bringen die Gerechten den Dank.

Deshalb, Stern des Meeres,
Keimzelle des Wortes Gottes
und des Einzigen Morgenröte;
Pforte des Paradieses,
von der das Licht ausgegangen ist,
bitte Deinen Sohn:

Dass er uns von Sünden löse
und ins Reich der Liebe
wo das Licht sorgsam leuchte,
für alle Zeiten einquartiere.
Amen.

Dienstag, 25. Februar 2020

Höhen und Tiefen auf dem klösterlichen Weg - eine Reflexion

Die meisten europäischen Klöster haben heute nur wenige Mönche oder Nonnen, und meist sieht man sie durch die Gegend sprinten, jedenfalls die, die man sieht. Das Thema Burnout ist durchaus eine reale Gefahr für manche Vertreter dieser Spezies. Doch schon Benedikt wusste, dass es auch die anderen gibt, wenn er sagte: Ist aber einer so nachlässig und träge, dass er nicht willens oder nicht fähig ist, etwas zu lernen oder zu lesen, trage man ihm eine Tätigkeit auf, damit er nicht müßig ist. (RB48,23). Aber daraus jetzt einfach gute und schlechte Mönche oder Nonnen zu machen, ist gar zu sehr vereinfacht. Denn jeder ist zu gewissen Zeiten und in gewissen Situationen gut oder schlecht. Es gibt keinen Menschen, der immer und überall nur eifrig sein kann. Und - Eifer hin, Eifer her - es bleibt dabei doch noch zu fragen: Was ist das Motiv eines Engagements? Für wen oder was wird Energie geleistet? Geht es am Ende vielleicht nur darum, besser zu sein als andere? Nein - weder das eine noch das andere ist nur gut oder nur schlecht. Alle im Kloster sind menschliche Wesen, die in Gesundheit und Krankheit wie auch im Laufe des Prozesses des Alterns Phasen erleben, in denen nicht alles so läuft, wie man es gerne laufen sähe, in denen auch einmal der Punkt erreicht ist, an dem einfach keine Motivation oder Kraft da ist, das Aufgetragene mit Elan zu tun. Und es gibt auch im Kloster durchkreuzte Pläne, gescheiterte Projekte, gleichgültig wie sie zustande kamen. Wenn darin viel Arbeit steckt und diese umsonst war, folgt erstmal tiefe Ernüchterung. Dann geht vorübergehend nichts mehr, und die Sinnfrage stellt sich. Diese Höhen und Tiefen verändern! Sie verändern aber auch ganz natürlich die Dynamik im Alltagsgeschehen und deren Außenwirkung. Doch die Power, die eine Gemeinschaft als Ganze hat, ist die Summe ihrer Mitglieder. Wenn alle in den Seilen hängen, weil man zum Beispiel nicht rechtzeitig auf entsprechende Belastungen reagiert hat oder an jahrhundertealten Traditionen festhält, weil es immer so war, dann ist das einer Gemeinschaft ebenso anzumerken wie einer, in der alle vor Energie gleich platzen würden. Die ausgleichende Funktion der Körperschaft für das Wohlbefinden des Einzelnen ist nicht zu unterschätzen. Im Kloster steht man füreinander ein oder man geht gemeinsam unter!

Das Gehorsamsgelübde spielt außerdem eine wesentliche, manchmal auch den jeweiligen Schwung beeinflussende Rolle. Ein Mönch oder eine Nonne ist gehalten, jedwede Sache zu tun, die ihm / ihr aufgetragen ist, unabhängig von eigenen Vorlieben und Talenten. Die jeweils aufgetragenen Dinge haben aber mitunter nicht nur den Aspekt der Erledigung einer Aufgabe, sondern auch persönlichkeitsbildende Funktion. Was in Klöstern zählt, ist nicht monastische Selbstverwirklichung an einem ausgesuchten Ort, sondern die Bereitschaft, mit den eigenen Fähigkeiten der Gemeinschaft zu dienen. Doch auch dies lässt noch viel persönlichen Interpretationsspielraum, wo es sich besser dienen lässt. In vielen Klöstern gibt es daher eine Art Rotationssystem. Denn es kann recht schnell passieren, dass ein Einzelner seinen Verantwortungsbereich bewusst oder unbewusst zum Machtbereich ausbaut. Ein monachus kann, auf Abwege gleitend, durchaus auch einmal zum dominus monopoli werden. Aber auch das Gegenteilige gibt es, dass eine insgesamt schwache Gemeinschaft ein vermeintlich starkes Mitglied aus reiner Angst um je eigene Chancen an den Rand drängt, diese Talente also nicht so nutzt, wie sie unter optimalen Bedingungen zum Nutzen der Gemeinschaft nutzbar wären. Hier kommt zudem das Gelübde der Armut ins Spiel. Und nicht immer wird soetwas unter diesem Begriff subsummiert, da vieles ja auch unbewusst läuft: Die Bedeutung von Einfluss und Beeinflussung über persönliche Kompetenzen und Möglichkeiten ist nicht zu unterschätzen. Auch dies ist in sich weder gut noch schlecht. Denn zum einen ist es notwendig, seine Fähigkeiten auch zu gebrauchen und Verantwortung wahrzunehmen, und zum anderen kommt niemand als perfektes Wesen auf die Welt. Hier hat die jeweilige Gemeinschaft korrigierende Funktion, die aber selbst als Ganze ebenso auf dem Weg des Lernens ist.

Gerade einer unliebsamen Aufgabe entläuft man auch im Kloster schneller, sie wird häufiger durch andere Tätigkeiten und sich anbietende Gelegenheiten unterbrochen. Wenn man dies mit weltlichen Arbeitsbedingungen vergleicht, wo es ebenso ist, dürfte das wohl kaum überraschen, denn die primäre Prägung eines Mönches oder einer Nonne kommt ja von draußen und ist je nach Eintrittsalter unterschiedlich intensiv ausgefaltet. Die Vorstellung täuscht, dass in einem Kloster alles perfekt laufen muss und alle wie Bienen in der Hochsaison schaffen - dies entspricht selbst in der Natur nur als Momentaufnahme der Schöpfung, denn auch Bienen haben einen Rhythmus und Ruhephasen. Permanente Betriebsamkeit wäre unmenschlich, und solche Erwartung ist genauso ein von außen aufgestülpter Mythos wie permanente 'betende' Untätigkeit. Denn ein wesentliches Merkmal klösterlichen Seins ist der Rhythmus, der beständige Wechsel von Arbeit und Betrachtung im Gebet. Diesen Dienst übt die Gemeinschaft als Ganze aus. Es ist Sorge des Abtes / der Äbtissin, dem Individuum innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten den Raum zu geben, der diesem Menschen dient, seinen monastischen Weg zu gehen, in dem er seine kreativen Fähigkeiten zum Wohl und Nutzen der Gemeinschaft einsetzen kann. Auch hier hat schon Benedikt von den Starken und Schwachen gesprochen. Und es ist sehr vielfältig, worin man stark und schwach sein kann.
 
Auf dieser Ebene liegt auch der Begriff Einsamkeit. Eine Gemeinschaft respektiert im optimalen Fall die Bedürfnisse des Einzelnen und hilft ihm / ihr mit Toleranz und Geduld auf den Weg. Doch nur jemand, der ganz bei sich sein kann und es dort aushält, ist auch gemeinschaftsfähig. Vieles lässt sich kompensieren über Arbeit und Kreativität, zum Teil über lange Zeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Einsatzort. In einem Klosterladen oder im Gästebereich oder in der Sakristei wird man durch mehr Infos unterhalten, mit mehr Sorgen oder auch Nöten konfrontiert, als wenn man Gästezimmer oder Gänge zu putzen hat oder die Senioren seines Hauses verpflegt. Erstgenannte Arbeitsplätze bieten durch ihre Abwechslung mehr Möglichkeiten, sich von sich selbst abzulenken und sich in den Augen anderer zu profilieren. Doch nicht immer im Leben wird es so sein, dass jemand mit 'seiner' Arbeit beschäftigt ist und reichlich Außenkontakte pflegen kann. Zudem gibt es niemanden, der dauerhaft nur produktiv und von Nutzen ist. An diesem Punkt zeigt sich dann auch die Herausforderung im Miteinander gemeinschaftlichen Lebens, dort wo Gesprächsgelegenheiten gesucht werden, weil jemand im Laufe der Jahre eben doch nicht bei sich zu Hause angekommen ist, weil es gerade keine interessanten Dinge gibt, weil gerade nichts passiert. Ja - an diesem entscheidenden Punkt zeigt sich, ob jemand über die Zeit zum Beter wird oder für Geschwätz offen ist, wie schon Benedikt weiß.

Sonntag, 2. Februar 2020

Wo hatte Gertrud ihr Grab? - Die häufigste Frage in Helfta.

Eines vorab: Helfta kennt weder die Begräbnisstätte der hl. Gertrud noch verfügt das Kloster über Reliquien dieser Heiligen. Deshalb die Gegenfrage: Wo kommen die Reliquien her, die von Gertrud in Umlauf sind? Und in der Tat gibt es Orte, die über eine authentisch beglaubigte Reliquie verfügen. Da wäre es doch ein interessanter Ansatz, einmal den Weg vom Knochen zum Grab zu gehen, statt umgekehrt. Das ist zwar aufwändig, doch irgendwo ist immer notiert, wer wann eine Reliquie wohin verschenkt hat. So müsste man dann auch schlussendlich zumindest den Namen der Instanz erfahren können, die am Anfang der Vergabe stand.
Gesetzt den Fall, Papst Innozenz XI. hätte 1678 bei der offiziellen Heiligsprechung Reliquien gehabt, so dürfte es darüber sicher auch noch Unterlagen geben. Dann müsste sich auch der Name dessen finden können, der ihre Knochen von Helfta nach Rom geschafft hätte. Und diese Person müsste dann wohl gewusst haben, wo ihr Grab war... Dies zumindest unter der Prämisse, dass es schon lang vorher eine Verehrung gegeben hätte und er nicht geschwindelt hat.
Ist eine Verehrung vor diesem Zeitpunkt nicht der Fall, so muss man annehmen, Gertrud ist als eine unter vielen anderen Mitschwestern bestattet worden. Und dies an einem Ort, der zwischen 1342 und 1525 gar nicht als Klosterort genutzt wurde, da die Schwestern ja ihr Kloster in die Stadt Eisleben verlegt hatten. Haben sie die Knochen aller bis dahin Verstorbenen dorthin mitgenommen? Dann wäre das Grab zwischenzeitlich also in Eisleben gewesen? ... Und dann nach der Reformation wieder zum alten Standort gewandert?... Darüber kann man viel fantasieren. Und dann ist da noch die nachklösterliche Zeit, die ja auch noch vor der Heiligsprechung begann, der dreißigjährige Krieg, dem es Helfta verdankt, dass die alten, bis dahin irgendwie erhaltenen Konventgebäude des Klosterquadrats restlos untergingen. Wer hat sich in jener Zeit um den Erhalt einer klösterlichen Grabstätte gekümmert? Mit dem Verstand will sich mir das alles nicht erschließen.

Andere gehen anders an die Frage heran, wollen aber wahrscheinlich zum gleichen Ziel. Da lautet die Frage dann: Wo hat man früher in einem Frauenkloster bestattet? 
Darüber gibt es sicher ein bisschen mehr an Antwortmöglichkeiten, da es einige Literatur über Frauenklöster gibt, die manchmal auch den Friedhof erwähnen. Und da erfährt man dann, dass es an folgenden Orten sein kann: im Kreuzgang oder an der nördlichen oder südlichen Aussenseite der Kirche, quasi an der Schwelle zum Haus Gottes, wie es im Psalm (Ps 84,10) heißt. Manchmal auch hinter der Ostfassade. Die Äbtissinnen begrub man im Kapitelsaal, der aber in Helfta auch schon lange nicht mehr steht. Dort würde man ja das gesuchte Grab auch nicht finden. Und was würde man denn erwarten, wenn man den Friedhof fände? Beschriftete Knochen? Aufgrund dieser Sachlage hier vor Ort weiß ich irgendwie nicht, wie jene Reliquien, die es gibt, gewonnen worden sind. Nach meiner Kenntnis ist der Platz des mittelalterlichen Nonnenfriedhofs an diesem Ort bis dato unbekannt.

Dienstag, 28. Januar 2020

Gertrud und Gertrud - wer ist wer in Helfta?

Die heilige Gertrud von Helfta, die einzige Frau, der man im 17. Jahrhundert den Titel 'die Große' beigefügt hat, wird oft mit Äbtissinnenstab und Kreuz dargestellt. Diese Insignien trug sie zu Lebzeiten aber gar nicht. Vieles, was an Helftaer Überlieferung da war, wurde von da an mit ihrem Namen verbunden. Und manches wurde ihr dabei auch in die Schuhe geschoben, wie beispielsweise Gebete ihrer Mitschwester Mechtild von Hakeborn. - Aber - unbesehen der Tatsache, dass ihr Hauptwerk sicher spirituelle Tiefe hat - warum geht jemand erst mehr als 150 Jahre nach seinem Tod als Stern am Heiligenhimmel auf? Haben ihre Zeitgenossen ihre Heiligkeit gar nicht bemerkt? Und warum hat man von da an die Überlieferung von Helfta unter ihrem Namen subsummiert? Weil derartiges Schriftgut in jener Zeit vielleicht auch soetwas wie eine 'Marke' für eine religiöse Haltung war? Vielleicht weil das Geschriebene teilweise für einen Frömmigkeitsstil stand, den es zu ihren Lebzeiten so noch nicht gab, der sich also von dem ihrer Mitschwestern etwas absetzte und ab dem 16. Jahrhundert forciert entwickelte? Mechtild von Hakeborn kennt in ihrem überlieferten Werk eine solche Individualfrömmigkeit nicht. Im Gegensatz zu Mechtild, bei der der Himmel fast immer bevölkert ist, wenn auch persönliche Begegnungen stattfinden, liegt der Schwerpunkt von Gertruds Schaffen auf dem Ich.  War da nicht auch ein bisschen der zeitgebundene Bedarf einer religiösen Erneuerung des 16. Jahrhunderts, war also ein frommer Wunsch der Vater dessen, was nun wurde, so kurz nach der Reformation? 

Für die Exercitia spiritualia beispielsweise, deren einzige Textquelle der Druck eines Kartäusermönches von 1536 ist, und der eben der Meinung war, dass die Exercitia von Gertrud mitverfasst sind, frage ich mich - entgegen der vorherrschenden Meinung - aufgrund der so völlig anderen Konzeption des Werkes sehr deutlich, ob Gertrud wirklich die Autorin dieses Werkes ist. Ist man nicht auch heute sehr schnell dabei, den Begriff Helftaer Mystik für alles zu nehmen, was aus Helfta kommt, ohne eine Differenzierung im Detail? Wie eingehend ist denn geprüft worden, dass es nicht aus der Feder einer Hakebornerin stammt? Könnte Gertrud nicht auch Gertrud von Hakeborn, eben jene berühmte Äbtissin gewesen sein? Wenn man heimlich ein Buch mit den Gedanken von Mechtild aufschreiben kann, warum dann nicht auch ein Buch mit dem Gedankengut einer hochverehrten Äbtissin?

Die großen Postulate stellt man zumeist nicht in Frage, sondern versucht alles so zu interpretieren, dass es in das vorgegebene Schema passt. Weil mir dies am Herzen liegt, weil ich in meiner Lektüre dieser Frauen zu dem Schluss gekommen bin, dass Konzeption und Stil anders sind als das, was Gertrud von Helfta im Legatus von sich gibt, mag die 'entsetzliche' Frage, möglicherweise auch die entsetzlich dumme Frage, erlaubt sein, ob die Exercitia spiritualia nicht das geistige Eigentum einer anderen Gertrud seien und wir es hier, ebenso wie beim Liber specialis gratiae damit zu tun haben, dass eine begabte Schreiberin mit Sinn für die Größe dessen, was sie da notiert, im Auftrag ihrer Äbtissin, nämlich der Nachfolgerin jener Gertrud, das geistige Erbe der beiden großen Hakebornerinnen zu Papier gebracht hat.

Es war sicher nicht Gertrud selbst, die sich da eventuell mit fremden Federn geschmückt hat. Das haben Menschen lange nach ihrem Tod aus ihrer zeitgebundenen Motivation heraus getan. Vielleicht hat auch die Überlieferung einen solchen Irrtum besorgt, denn eine Sache von einer Gertrud unter dem Namen einer anderen Gertrud einzusortieren, ist nicht wirklich schwer. Ich möchte diese Fragestellung hier aufwerfen und eine Lanze brechen für eine Frau, die in der Tat Äbtissin war, ihr Kloster in schwieriger Zeit von ihrem 19. Lebensjahr an über 40 Jahre geleitet hat und in dieser Zeit zu einer Blüte führte, wie sie Helfta danach nie wieder erlebt hat. Schließlich war es Gertrud die Große selbst, die die Lebensbeschreibung dieser Frau inklusive ihrer Bewunderung für sie im Liber specialis gratiae zu Papier gebracht hat.

Donnerstag, 9. Januar 2020

Konziliengeschichte im Hymnus

In den letzten Wochen habe ich mich intensiver mit dem Hymnus Conditor alme siderum befasst und war dabei ganz fasziniert von Inhalt und Form. Dabei stellte ich fest, dass dieses Werk, das ursprünglich wohl ein reiner Vierzeiler mit Bekenntnischarakter gewesen ist, also eher eine Akklamation als ein wirklicher Hymnus, im Laufe der Zeit, d.h. zwischen dem vierten und dem sechsten Jahrhundert, immer länger wurde, bis er im siebten Jahrhundert schließlich in der Form, die wir heute kennen, als Adventshymnus in Hymnarien erscheint (vgl. Gneuss).

Auffällig ist darin die wiedergespiegelte Konzilsgeschichte: Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451. Schon allein der Text der ersten Strophe kann gegen einige Häresien bestehen. Und irgendwie paraphrasiert er ein bisschen den Christus-Hymnus im Kolosserbrief. Damit hat er auch einen anti-gnostischen Zug.

Mit dem erhabenen Schöpfer ist Christus in der kosmischen Dimension des Kolosserbriefes angesprochen. Sodann folgt mit der Bezeichnung ewiges Licht eine Absage an die Arianer, für die dieser Christus nicht ewig sein konnte und auch gegen die Manichäer, für die zwar Christus in einem Zusammenhang zum Licht stand, jedoch nicht als dessen Urheber. Schließlich scheint eventuell noch ein Hieb gegen die Donatisten ausgeteilt, wenn Christus als Erlöser von allem ja auch die in Verfolgungszeiten passager abgefallenen Getauften erlöst. Allein in dieser Strophe passt sich die Melodie dem Text an, während es in den nachfolgenden Strophen keine eindeutige Text-Melodie-Beziehung mehr gibt.

In Strophe zwei geht es um die Zwei-Naturen-Lehre. Und je nachdem, ob man am Ende der ersten Verszeile einen Ablativ (interitu) oder einen zum Reim besser passenden Akkusativ (interitum) gelten lassen möchte, wird man sich theologisch auf eine andere Seite schlagen. Die monophysitische Version hat sich über die Zeit offenbar verflüchtigt.

In der dritten Strophe geht es nun irgendwie von vorne los, denn nachdem Christus schon durch seinen Tod der Menschheit ein Heilmittel gegeben hat, kommt er nun erst zur Welt. Hier sind wir inhaltlich beim Konzil von Ephesus, das Maria als Gottesgebärerin benannte. Aber diese Aussage betont somit auch Christus als Gott, was für die Zusammengehörigkeit der Strophen 3 bis 5 von hoher Bedeutung ist. Denn in Strophe vier wird mit dem Text des Philipperbriefes Christus als der Starke benannt, der mit der Umschreibung als wiederkommender Richter in Strophe fünf zugleich auch der Unsterbliche ist. Schon der Zwettler Zisterzienserpater Alexander Lipp hatte in seinem Hymnenkommentar von 1890 diesen Anklang an das Trishagion des Karfreitags bemerkt, welches als Formel oder Gesang in Chalcedon zuerst erwähnt ist. In diesen Hymnus ist mit agie auch ein griechisches Wort hineingelangt. Die älteste Tradition des Singens des Trishagion im Abendland soll Benevent haben...

Nach meiner Ansicht gibt es unter der Voraussetzung einer strophenweisen Verlängerung über einen längeren Zeitabschnitt und angesichts der in der ersten Strophe vorhandenen Anklänge an Häresien des vierten Jahrhunderts dann doch wieder Gründe, dem Ambrosius von Mailand die erste Strophe nebst Melodie in die Schuhe zu schieben. Im Rahmen einer heftigen antiarianischen Auseinandersetzung mit dem Kaiserhaus um die Basilica Portiana 385/386 gäbe es - wohlgemerkt kurz nach dem ersten Konzil von Konstantinopel - durchaus einen Anlass, von dem Augustinus in seinen Bekenntnissen (Conf. 9,7,15) schreibt, dass diese Auseinandersetzung der Anlass gewesen sei, Gesänge nach dem Brauch der Ostkirche in die Liturgie einzuführen. Die erste Strophe ist als in sich geschlossene inständige Bitte im vierten Kirchenton verfasst. Vielleicht war es ja auch in einer vital bedrohlichen Situation einst eine so inständige Bitte...

__________________________________________

BERLINER REPERTORIUM, Conditor alme siderum: URI:
https://repertorium.sprachen.hu-berlin.de/repertorium/browse/hymn/7165?
skip=0&_bc=S1.7165, abgerufen am 29.12.2019

GNEUSS, Helmut, Zur Geschichte des Hymnars, in: Andreas HAUG – Christoph MÄRZ
– Lorenz WELKER (Hgg.) Der lateinische Hymnus im Mittelalter. Überlieferung –
Ästhetik – Ausstrahlung, (Bärenreiter-Verlag, Kassel / Basel [u.a.]), 2004, S. 63 – 86.

LIPP, Alexander, Die Hymnen des Cistercienser – Brevieres, Heinrich-Kirsch-Verlag,
Wien, 1890.

PLANK, Peter, Trishagion, LTHK 10, (Herder – Verlag, Freiburg -
Basel – Rom – Wien), 2001, Spp. 262-263.

WILLIAMS, Rowan D., Arius, Arianismus, LTHK 1, (Herder – Verlag, Freiburg -
Basel – Rom – Wien), 1993, Spp. 981-989.