Montag, 17. September 2018

Die vier Primarabteien als Rechtsinstitute hinter Cîteaux - eine Entstehungstheorie

Eigentlich habe ich mich bisher nie gefragt, wie die vier Primarabteien zu einem Rechtsinstrument geworden sind, wann und wieso deren Äbte Kompetenzen bekamen, die andere Äbte nicht hatten. Zumeist habe ich gedanklich alle strukturellen Konzeptionen in das Jahr 1119 gelegt und als geschaffene Einrichtung im Kontext der Approbation der Carta Caritatis gesehen. Doch kürzlich stolperte ich über diese Frage und bekam eine andere Idee:

Im Brief Nr. 72, den Bernhard von Clairvaux an den Abt Rainald von Foigny schreibt [1], verwendet er das Bild der Quadriga und führt dazu aus, dass ein Wagen durch Hinzufügen der Pferde zunächst mehr Gesamtgewicht bedeutet, dadurch aber leichter zu bewegen ist. In Bezug auf den im Brief angesprochenen Abt, erklärt er in bildhafter Sprache, dass er als Zugpferd seine Gemeinschaft, d.h. den Wagen, leichter zu steuern vermag. Er nennt dabei die vier Evangelien, mit deren Hilfe alles bewegt, bewerkstelligt und bewältigt werden kann. Doch mit dem Wort Quadriga denkt er ja nicht an ein Pferd, sondern an vier Pferde. Und eine Quadriga braucht jemanden, der sie lenkt. Das Bild im Hintergrund hat also hier schon eine andere Dimension. Deshalb meine Frage: Wurde der Brief wirklich schon 1121 oder wenig später verfasst, wie die Fußnote angibt? Ist es nur Gefühlsbekundung, was er lt. Kommentar S. 1085 meint? Ich bin mir dessen nicht mehr so sicher. Denn mit dem Übergang zum Wagen des Evangeliums spielt Bernhard auf ein biblisches Bild an (Ez 1, 4-28), das von Irenäus ausgelegt wurde. Hier muss man, um das Bild in Gänze zu verstehen, sich vielleicht noch als damals selbstverständlich hinzudenken, was Benedikt in seiner Regel sagt, dass der Abt im Kloster die Stelle Christi vertritt, und weiterhin dass mit Christus auch das Bild des Vaters sichtbar ist: Irenäus von Lyon nimmt in Contra Häreses, Liber 3 [2] darauf Bezug und wendet dieses Bild des Ezechiel auf Christus und die Evangelien an. Weiter sagt er, Gott habe mit dieser Zahl 4 in der Welt ein Maß in der Heilsordnung gesetzt. Diesen Gedankengang könnte Bernhard im Brief 72 aufgegriffen haben. Dann wäre der Abt von Cîteaux der Lenker, die 4 Äbte mit beratender Funktion die Pferde der Quadriga, der Orden als Ganzes die zu lenkende Last. Wenn man den Registerband zu den genannten Bernhardswerken aufschlägt, sucht man jedoch vergebens nach Irenäus von Lyon. Dennoch würde ich meinen, dass dieses im Brief benutzte Bild als biblischen Untergrund (ein Ausdruck von Jean Leclercq) die Berufung des Ezechiel hat und dass die spezielle Auslegung dieses Bildes bei Irenäus hier im Hintergrund steht. 

Dieses Bild muss in Bernhard gearbeitet haben, denn als es um die Ausarbeitung der Statuten von Jully ging [3], geschah offenbar eine Neuinterpretation desselben mit praktischem Nutzen. Vier Zisterzienseräbte, d.h. jene, die das Zisterzienserleben kannten, weil sie es selbst führten und anleiteten, stellten sich dem Abt von Molesme als Berater zur Verfügung, um eine Regel für ein Frauenkloster zu verfassen. Bleibt man in diesem Bild, so ist der Abt von Molesme der Lenker und dann sind die vier zisterziensischen Äbte als Beigabe die Pferde, um mit der Last, dem Kloster Jully entsprechend umzugehen. Das ist bemerkenswert und wohl einmalig in dieser Form, dass am Ende 5 Äbte eine Regel für ein Frauenkloster schreiben.

Nur wenig später gibt es dann einen Generalkapitelsbeschluss, bei dem ausgerechnet dies vorgeschlagen wird: vier Äbte sollen als Berater dem Abt von Citeaux zur Seite stehen [4]. Zwar ist in diesem Statut noch keine konkrete Zuschreibung an einen bestimmten Abt erfolgt. Dennoch ist es möglich, dass in diesem Beschluss der Startpunkt für die Herausbildung dieser Kompetenz der ersten vier Tochtergründungen, nämlich der Primarabteien von Citeaux, liegt. Dies würde bedeuten, dass sich das Gremium des Generalkapitels nach dem Tod von Stephan Harding weiterentwickelte und mehr Kontur gewann, dass dieses Gremium in 4+1 - Struktur die Quadriga des Ordens bilden sollte.

Nachtrag: Vielleicht ist der Adressat ja nicht der Abt von Foigny, sondern der neugewählte Abt gleichen Namens von Cîteaux? Denn die drei Briefe an ihn folgen direkt auf einen Brief an Guido von Trois-Fontaines, dem dieser im Amt gefolgt wäre. Dann bestünde eine zeitliche Nähe zu den Statuten von Jully und dem GK - Beschluss und dann wäre das im Brief Gesagte alles Andere als Gefühlsduselei. 

Letzte Änderung: 18.09.2018

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[1] Gerhard Winkler [Hg.] Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke. Innsbruck (1990-1999), hier Bd. 2, Brief 72, hier S. 592f.
[2] Bibliothek der Kirchenväter online, abgerufen am 16.09.2018: Irenäus († um 200) - Gegen die Häresien (Contra Haereses), Drittes Buch, 11. Kapitel: Johannes über dasselbe Thema. — Die vier Evangelien als Ganzes 8.
[3] Jean Leclercq, Saint Bernard et les moniales de Jully. In: Ders.: Saint Bernard et le texte de ses écrits. ASOC 1-2 / 9 (1153) 192-194.
[4] Hildegard Brem / Alberich Martin Altermatt, Einmütig in der Liebe. Die frühesten Quellentexte von Cîteaux. (lat./dt.). (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 1) Grevenbroich 1998, 140-141.