Sonntag, 2. Januar 2022

Lied, Nachricht und einfühlsame Todesanzeige

Nochmal das besagte Weihnachtslied:

 Refrain: 
O quam mira perpetrasti, 
Jesu, propter hominem, 
tam ardenter quem amasti, 
Paradiso exulem!

1. 
Altitudo, quid hic jaces in tam vili stabulo?
Qui creasti coeli faces, alges in praesepio?

2.
 Fortitudo infirmatur, parva fit immensitas.
Liberator alligatur, nascitur aeternitas.

3. 
 Pr(a)emis ubera labellis, sed intactae virginis. 
Ploras uvidis ocellis, coelum replens gaudiis.


Dass sich in diesem Lied so einiges an Information versteckt, wurde schon gesagt (nämlich hier). Nachzutragen bleibt, dass die Initialen der Namen der Kontrahenten Adolphus und Fridericus jeweils den Beginn einer Strophe bilden. Doch eine dritte Initiale vermittelt noch etwas:
Man kann diese Nachricht auch als Todesanzeige lesen, jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass der, von dem der Refrain handelt, nicht der geschlagene Friedrich ist, sondern jener L., der ihn befreit hat und dabei sein Leben verlor "nascitur aeternitas". Er ist aus dem 'irdischen Paradies' ausgezogen und damit nahe bei Jesus (siehe Refrain). Dann ist die Mutter des Verstorbenen eine Empfängerin der für alle verfassten und öffentlich gesungenen anteilnehmenden Nachricht und die konkrete Adressatin der dritten Strophe: "Für seine Lippen drückst Du (Jesus jetzt) die Brüste, jedoch (die) der unberührten Jungfrau. Du (Frau) weinst mit feuchten Äuglein, während der Himmel mit Freuden erfüllt ist." Kann man einer Mutter die Auferstehungsbotschaft schöner vermitteln, als so, dass ihr im Himmel nun neugeborener Sohn jetzt von der Gottesmutter dort genährt wird? 
Ein Dominikaner war er. In der convivium - Geschichte des Liber in Kapitel I,1 schreitet Mechtild die Gruppe der Apostel ab, als sie dieses Lied anstimmt.

Ich finde diesen Text in seinen vielfältigen Lesarten als Weihnachtslied, als gedichtete und vertonte Nachricht und Todesanzeige unsagbar gelungen und wunderbar feinfühlig tröstend. Diese Art der Textverarbeitung bedeutet aber auch, dass es, um alle Ebenen zu erfassen, mehrere Übersetzungen geben muss. Das bedeutet, dass auch der Liber in der Volkssprache nicht mehr die Fülle dessen vermittelt, was er an Textgehalt im lateinischen Urtext transportiert hat.

Ein solch informativer Text hat sich sowohl mündlich, als auch schriftlich und wohl auch per Brieftaube exponentiell verbreitet, sonst wäre dieses Lied über die Jahrhunderte wohl abhanden gekommen. Auch wenn es heute keine Melodie mehr gibt, muss es gesungen worden sein. Vielleicht finden sich ja noch irgendwo die Noten.

Kleine Textergänzung am 03.01.2022