Der Liber specialis gratiae steht bis auf den heutigen Tag im Schatten des Werkes Legatus divinae pietatis von Mechtilds Schülerin Gertrud von Helfta und wird doch immer wieder und trotz aller Unterschiede in der Popularität der beiden Werke fast überall mit diesem Werk verglichen.
Barbara Newman hat in ihrer Einleitung zur englischsprachigen Ausgabe des Liber specialis gratiae (MECHTHILD OF HACKEBORN AND THE NUNS OF HELFTA, The book of special grace, eingeleitet und übersetzt von Barbara NEWMAN, Paulist Press, New York – Mahwah, NJ, 2017) auf wesentliche Quellen verwiesen und damit auch noch einen ganz anderen Vergleichspunkt gesetzt. Sie sieht als vorbildgebendes Genre des ersten Buches den Liber visionum der Elisabeth von Schönau an. Als wesentliche Info für meine Betrachtung folgt daraus: Es gab initial eine Formvorlage.
Zudem hat die genannte Übersetzerin das Arrangement des Stoffes in zweierlei Hinsicht etwas verändert: Einmal hat sie alle Kapitel, die über die Genese des Buches und seine Entdeckung berichten, in einem Schlusskapitel - Kapitel acht - zusammengefasst, wobei sie auch deren ursprüngliche Platzierung im Werk angibt. Das ermöglicht einen guten Überblick. Zum anderen hat sie - wohl um die christozentrische Dimension zu betonen (? - vgl. das Vorwort von Richard Kieckhefer) - die an das erste Buch als Appendix angehängten 12 Marienkapitel schlichtweg fortgelassen.
Barbara Newman hat in ihrer Einleitung zur englischsprachigen Ausgabe des Liber specialis gratiae (MECHTHILD OF HACKEBORN AND THE NUNS OF HELFTA, The book of special grace, eingeleitet und übersetzt von Barbara NEWMAN, Paulist Press, New York – Mahwah, NJ, 2017) auf wesentliche Quellen verwiesen und damit auch noch einen ganz anderen Vergleichspunkt gesetzt. Sie sieht als vorbildgebendes Genre des ersten Buches den Liber visionum der Elisabeth von Schönau an. Als wesentliche Info für meine Betrachtung folgt daraus: Es gab initial eine Formvorlage.
Zudem hat die genannte Übersetzerin das Arrangement des Stoffes in zweierlei Hinsicht etwas verändert: Einmal hat sie alle Kapitel, die über die Genese des Buches und seine Entdeckung berichten, in einem Schlusskapitel - Kapitel acht - zusammengefasst, wobei sie auch deren ursprüngliche Platzierung im Werk angibt. Das ermöglicht einen guten Überblick. Zum anderen hat sie - wohl um die christozentrische Dimension zu betonen (? - vgl. das Vorwort von Richard Kieckhefer) - die an das erste Buch als Appendix angehängten 12 Marienkapitel schlichtweg fortgelassen.
Diese beiden Maßnahmen haben mich angeregt, die Konzeption und Genese des Buches, das über einen Zeitraum von einigen Jahren entstand und in jedem Teilbuch auf unterschiedliche Weise einen Aspekt des Lebens (und Sterbens - Buch sieben) der Mechtild von Hakeborn vermittelt, neu anzusehen.
(1) Grundlage der Gestaltung von Buch eins ist das Kirchenjahr, welches bekanntlich mit dem Advent beginnt, bei Mechtild aber mit einem Kapitel zur Annuntiatio (25.03.) dem der Advent dann ab Kapitel zwei folgt. Natürlich kann man einen Sinn für diesen Beginn finden, aber muss alles so perfekt sinngebend sein? Hier ist jedenfalls ein erster Stolperstein, der auf eine etwas spätere Redaktion der beiden Schreiberinnen inklusive der Protagonistin schließen lässt.
(2) Newmans Zusammenstellung in Kapitel acht zeigt deutlich, dass Kapitel über Sinn und Zweck des Gesamtwerkes am Ende des Buches zwei und fünf platziert sind. Da ja bekannt ist, dass das Buch allmählich entstand, könnte man daraus schließen, dass Buch zwei ein erster Schlusspunkt des Werkes sein sollte. Das bedeutet dann auch, dass es den Prolog in heutiger Form zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben hat, so nicht geben konnte. Und hier genau erhebt sich die Frage, was genau Mechtild am Krankenbett eigentlich vorgelesen wurde. Allein vom Umfang her werden es wohl nicht die ersten fünf, sondern eher ein bis zwei Bücher gewesen sein, was die beiden ersten der vielen Abschlusskapitel in Buch zwei sinnvoll macht.
(3) Buch eins und zwei handeln von Mechtilds Visionen, sind jedoch ganz unterschiedlich ausgerichtet. Buch eins folgt dem Konzept der Vorlage (der Elisabeth von Schönau) und hat damit einen liturgischen Schwerpunkt, in Buch zwei ist mehr ausserliturgisches Geschehen verarbeitet. Damit kann man Buch zwei als eine ergänzende Erweiterung von Buch eins sehen, die möglicherweise einer frühen externen Leserschaft die Frage 'Wer ist sie, die das sagt?' besser beantwortet als es das erste Buch tat.
(4) Soweit gekommen, habe ich mich gefragt, was die angehängten Begebenheiten zu Marienfesten bedeuten könnten, zumal es ausgerechnet zwölf sind. Hat bei der Gestaltung von Buch eins und dessen nachträglicher Redaktion (vielleicht durch Mechtild selbst?) die Zahlensymbolik eine Rolle gespielt? Und wenn diese Vermutung kein Trugschluss ist, dann ist es wohl ein Fehler, diese Kapitel einfach zu streichen, denn dann hat man eigentlich etwas vom Konzept der Schreiberinnen und einen Einblick in die Genese des Werkes beseitigt.
Angenommen, das Buch eins begann anfangs tatsächlich mit dem Advent, dann hatte es ursprünglich 34 statt 35 Kapitel. Daraus lässt sich durchaus ein beabsichtigtes Konzept vermuten, das im Mittelalter üblich war, denn als Jesus am Kreuz starb, war er im 34. Lebensjahr. Mechtild muss Maria sehr verehrt haben. Das ergibt sich aus dem zwölfteiligen Annex. Maria - und dieses Wissen war im Mittelalter verbreitet - war nach ProtEvJak zwölf Jahre alt als der Engel Gabriel sie besuchte. Ein Kapitel mit dieser Begebenheit ist den 34 anderen fortan vorangestellt. So wie diese Szene an Portalen und Chorschranken, also an architektonischen Zugangswegen ihren Platz hatte, so war ihr Platz in der biblischen Buchmalerei am Anfang der Evangelien. So wird man nicht falsch liegen, zu unterstellen, dass die Möglichkeit besteht, dass Kapitel eins gleichzeitig mit dem marianischen Annex hinzugefügt wurde, also ausserhalb des ursprünglich schlüssigen Konzeptes 'Liturgisches Jahr' als Ergänzung und Einleitung steht.
Schließlich noch eine theologisch symbolträchtige Rechenoperation: 34 + 12 = 46. Nach dem einleitenden Annuntiatio - Kapitel folgen in Summe mit dem Annex 46 Kapitel in Buch eins. Der biblische Verweis zu dieser Zahl steht im Johannesevangelium (Joh 2,20) und hat den Tempel im Blick. Diese Zahl hat mit dem Bild des Tempels aber auch eine der Tradition entnommene Deutung: Nach Athanasius (De incarnatione verbi) ist Maria Tempel des WORTES. Und so sie die Engelsbegegnung mit zwölf Jahren hatte, war sie 46 Jahre alt, als Jesus starb. In dieser Blickrichtung zeigt sich also eine theologische Begründung für die auf uns überkommende Gestaltung des Buches eins, die ganz offenbar auf Mechtilds Form der Marienverehrung zurückgeht.
(5) Mit fortschreitender Berühmtheit und Entwicklung ihrer Krankheit verändert sich auch die Thematik der folgenden Bücher. Band drei vermittelt ihre an andere vermittelte Glaubenslehre, ist aber auch eine Auseinandersetzung Mechtilds mit ihrem zunehmend kranken Körper und ein Versuch, Gott in ihrem Leid zu loben. In Band vier hat Mechtild ihre Rolle neu definiert und angenommen. Sie wird mehr und mehr zur Fürsprecherin. Erste Gebetserhörungen werden berichtet. In Band fünf kommt der Tod Mechtilds näher. In ihrem Beten geht es um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Die Beziehung zu den bereits Gestorbenen wird intensiver und beherrscht das Thema. Zu dieser Zeit kam der Prolog hinzu. Band sechs - nachträglich ergänzt - handelt vom Tod der Äbtissin Gertrud, aber auch davon, wie Mechtild mit diesem Tod umging. Band sieben schildert den Tod der Mechtild inklusive einiger Begebenheiten im Kontext von Tod und Begräbnis. Diese beiden Bände setzen noch einmal einen Schlusspunkt, der das gesamte Werk zu einer Vita macht.
(1) Grundlage der Gestaltung von Buch eins ist das Kirchenjahr, welches bekanntlich mit dem Advent beginnt, bei Mechtild aber mit einem Kapitel zur Annuntiatio (25.03.) dem der Advent dann ab Kapitel zwei folgt. Natürlich kann man einen Sinn für diesen Beginn finden, aber muss alles so perfekt sinngebend sein? Hier ist jedenfalls ein erster Stolperstein, der auf eine etwas spätere Redaktion der beiden Schreiberinnen inklusive der Protagonistin schließen lässt.
(2) Newmans Zusammenstellung in Kapitel acht zeigt deutlich, dass Kapitel über Sinn und Zweck des Gesamtwerkes am Ende des Buches zwei und fünf platziert sind. Da ja bekannt ist, dass das Buch allmählich entstand, könnte man daraus schließen, dass Buch zwei ein erster Schlusspunkt des Werkes sein sollte. Das bedeutet dann auch, dass es den Prolog in heutiger Form zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben hat, so nicht geben konnte. Und hier genau erhebt sich die Frage, was genau Mechtild am Krankenbett eigentlich vorgelesen wurde. Allein vom Umfang her werden es wohl nicht die ersten fünf, sondern eher ein bis zwei Bücher gewesen sein, was die beiden ersten der vielen Abschlusskapitel in Buch zwei sinnvoll macht.
(3) Buch eins und zwei handeln von Mechtilds Visionen, sind jedoch ganz unterschiedlich ausgerichtet. Buch eins folgt dem Konzept der Vorlage (der Elisabeth von Schönau) und hat damit einen liturgischen Schwerpunkt, in Buch zwei ist mehr ausserliturgisches Geschehen verarbeitet. Damit kann man Buch zwei als eine ergänzende Erweiterung von Buch eins sehen, die möglicherweise einer frühen externen Leserschaft die Frage 'Wer ist sie, die das sagt?' besser beantwortet als es das erste Buch tat.
(4) Soweit gekommen, habe ich mich gefragt, was die angehängten Begebenheiten zu Marienfesten bedeuten könnten, zumal es ausgerechnet zwölf sind. Hat bei der Gestaltung von Buch eins und dessen nachträglicher Redaktion (vielleicht durch Mechtild selbst?) die Zahlensymbolik eine Rolle gespielt? Und wenn diese Vermutung kein Trugschluss ist, dann ist es wohl ein Fehler, diese Kapitel einfach zu streichen, denn dann hat man eigentlich etwas vom Konzept der Schreiberinnen und einen Einblick in die Genese des Werkes beseitigt.
Angenommen, das Buch eins begann anfangs tatsächlich mit dem Advent, dann hatte es ursprünglich 34 statt 35 Kapitel. Daraus lässt sich durchaus ein beabsichtigtes Konzept vermuten, das im Mittelalter üblich war, denn als Jesus am Kreuz starb, war er im 34. Lebensjahr. Mechtild muss Maria sehr verehrt haben. Das ergibt sich aus dem zwölfteiligen Annex. Maria - und dieses Wissen war im Mittelalter verbreitet - war nach ProtEvJak zwölf Jahre alt als der Engel Gabriel sie besuchte. Ein Kapitel mit dieser Begebenheit ist den 34 anderen fortan vorangestellt. So wie diese Szene an Portalen und Chorschranken, also an architektonischen Zugangswegen ihren Platz hatte, so war ihr Platz in der biblischen Buchmalerei am Anfang der Evangelien. So wird man nicht falsch liegen, zu unterstellen, dass die Möglichkeit besteht, dass Kapitel eins gleichzeitig mit dem marianischen Annex hinzugefügt wurde, also ausserhalb des ursprünglich schlüssigen Konzeptes 'Liturgisches Jahr' als Ergänzung und Einleitung steht.
Schließlich noch eine theologisch symbolträchtige Rechenoperation: 34 + 12 = 46. Nach dem einleitenden Annuntiatio - Kapitel folgen in Summe mit dem Annex 46 Kapitel in Buch eins. Der biblische Verweis zu dieser Zahl steht im Johannesevangelium (Joh 2,20) und hat den Tempel im Blick. Diese Zahl hat mit dem Bild des Tempels aber auch eine der Tradition entnommene Deutung: Nach Athanasius (De incarnatione verbi) ist Maria Tempel des WORTES. Und so sie die Engelsbegegnung mit zwölf Jahren hatte, war sie 46 Jahre alt, als Jesus starb. In dieser Blickrichtung zeigt sich also eine theologische Begründung für die auf uns überkommende Gestaltung des Buches eins, die ganz offenbar auf Mechtilds Form der Marienverehrung zurückgeht.
(5) Mit fortschreitender Berühmtheit und Entwicklung ihrer Krankheit verändert sich auch die Thematik der folgenden Bücher. Band drei vermittelt ihre an andere vermittelte Glaubenslehre, ist aber auch eine Auseinandersetzung Mechtilds mit ihrem zunehmend kranken Körper und ein Versuch, Gott in ihrem Leid zu loben. In Band vier hat Mechtild ihre Rolle neu definiert und angenommen. Sie wird mehr und mehr zur Fürsprecherin. Erste Gebetserhörungen werden berichtet. In Band fünf kommt der Tod Mechtilds näher. In ihrem Beten geht es um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Die Beziehung zu den bereits Gestorbenen wird intensiver und beherrscht das Thema. Zu dieser Zeit kam der Prolog hinzu. Band sechs - nachträglich ergänzt - handelt vom Tod der Äbtissin Gertrud, aber auch davon, wie Mechtild mit diesem Tod umging. Band sieben schildert den Tod der Mechtild inklusive einiger Begebenheiten im Kontext von Tod und Begräbnis. Diese beiden Bände setzen noch einmal einen Schlusspunkt, der das gesamte Werk zu einer Vita macht.