Dienstag, 20. Dezember 2016

Amplexus Gertrudis - nostra Abbatissa secunda


Der sechste Teil des Buches der Mechtild von Hakeborn enthält eine Lebensbeschreibung ihrer leiblichen Schwester, der Äbtissin Gertrud von Hakeborn. Dort steht der folgende Text, der einen Amplexus beschreibt, nicht - wie man erwarten könnte - den einer Nonne, die tief versunken ins Gebet eine Ekstase hat, sondern noch eine Spur existenzieller, nämlich als Verbindung von Tod und Leben (und in dieser Reihenfolge!):

"Cum vero in Passione legeretur, et inclinato capite tradidit spiritum, Dominus velut ex incontinentia ferventissimi amoris inclinatus super agonizantem ambabus manibus Cor proprium aperiens super eam expandit." 1

Damit dürfte klar sein, dass es ein Karfreitag war. Doch es ist nicht nur die Stunde des Sterbens Jesu in Gegenwart von Maria und dem Evangelisten Johannes, die bei der Sterbenden als anwesend geschildert werden. An diesem Tag wird im gleichen Evangelium auch von der Seitenöffnung berichtet, die hier mit dem Bild der liebenden Inclinatio Christi, dem Amplexus, zu einem Gipfel liebevollen Einswerdens, d.h. zu einem Akt wundervoller Schönheit verknüpft werden. Da ich darüber bisher noch nie etwas gelesen habe, während die Beschreibung des Amplexus des Bernhard von Clairvaux durch Konrad von Eberbach2 die Kunst durch die Jahrhunderte reichlich inspiriert hat, wollte ich hier einmal darauf aufmerksam machen.


1   Liber specialis gratiae in: Sanctae Mechtildis Virginis Ordinis Sancti Benedicti Liber specialis gratiae accedit Sororis Mechtildis ejusdem Ordinis Lux Divinitatis, (Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae II, hg.von den Mönchen von Solesmes) Poitiers / Paris 1877, S. 382.
2  Conradus, Mönch in Clairvaux, später in Eberbach und Abt daselbst: Exordium Magnum Cisterciense oder Bericht vom Anfang des Zisterzienserordens,(Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 3, übersetzt und kommentiert von Heinz Piesik [Hg.], Teil 1, Bücher I- III, Langwaden (2000), S. 154f.,Lib. II, Cap. VII, 5-16.